Vercors-Reise von Michael Hoyer

Vercors-Reise von Michael Hoyer

Mal was anderes als Provence oder Westalpen erleben? Ich habe da eine Idee: die Region südlich von Grenoble. Aber Vorsicht: Die wagehalsigen Straßen des Vercors sind nur für Schwindelfreie geeignet. Länger als 100 Meter kann man hier NIE geradeaus fahren. Die Kurvenhatz kann beginnen.

Die Provence, die Westalpen, der Genfer See – was haben diese Regionen gemeinsam? Millionen von Touristen pilgern alljährlich hierher, haben die Auswahl zwischen Dutzenden von Reiseführern fürs Zielgebiet. Aber wie sieht es mit der Gegend zwischen diesen Touri-Hotspots aus? Südlich von Grenoble, im Vercors und der Region Isère? Terra incognita, mitten in Europa? Vergessenes Land, völlige Einöde? An Ostern dieses Jahres nehme ich die knapp 600 Kilometer aus dem Schwarzwald kommend unter die Pneus. Allein die Anfahrt ist schon einer Adventure-Fahrt mehr als würdig: Dichtes Schneetreiben auf der Schweizer Autobahn zwischen Bern und Lausanne machen die Fahrt sehr beschwerlich. Zum Glück bin ich bestens equiped und habe seit vielen Jahren einen Touratech Companero-Anzug, der genau für solche Wetterkapriolen konzipiert wurde.

Das Navi leitet mich zielgerichtet nach Grenoble und durch noble Villenvororte in Richtung Vercors. Auf der D 106 schraubt sich dann die enge Straße höher und höher, bis jenseits der 1000-Meter-Marke. Das Vercors, eine kalte Hochfläche. Die Winter dauern nicht selten bis weit in den Mai, nur spärlich besiedelt, aber von tiefen Schluchten durchzogen, die wilde Flüsse geduldig ins weiche Kalkgestein gegraben haben. Wie der Gorges de la Bourne. Dort wurde eine schmale Straße mühsam durch die Felsen gemeißelt, mit rustikalen Tunneln und kleinen Mäuerchen am Abgrund zum rauschenden Fluss.

Weiter geht es dann auf Route des Ecouges. Ein paar enge Kehren, eine Handvoll feiner Kurven. Die Dramaturgie der Vercors-Bergstraßen ist leicht zu durchschauen. Nach einem schönen, aber keineswegs adrenalinfördernden Anstieg durch den Wald taucht man in einen grob gezimmerten finsteren Tunnel ein, es wird wieder hell und man wird vom Vercors-Hammer getroffen, unvorbereitet und heftig. Plötzlich sieht die Welt komplett anders aus. Der Berg ist hier einfach zu Ende und stützt quasi senkrecht als weiße Kalkwand ins Nichts der Tiefe. Um die Höhenunterschiede zu bewerkstelligen haben die Straßenbaumeister nicht selten extrem steile, zum Teil auch einspurige Fahrstraßen in den Felsen gemeißelt. Hier ist eines vorprogrammiert: Dass Vercors reicht für maximalen Nervenkitzel.

Das nächste Highlight auf dieser beeindruckenden Fahrt ist der Gorges du Nan. Obwohl das Bordthermometer zwischen frischen Minusgraden und kaum zweistelligen Plusgraden variiert ist die Dramaturgie des Vercors einmalig. Erst harmlos durch den Wald berghoch, ein scharfer Linksknick mündet in einem engen und finsteren Tunnel, und dann wieder: YEAH! Als ob das Programm in einer Sekunde von der ländlichen Beliebigkeit in einen Hitchcock-Thriller wechselt. Eine senkrechte weiße Wand, tief unten die grüne Schlucht und auf dreiviertel Höhe hängt dieser Weg am Fels. Kunstwerke des Straßenbaus, tollkühn in die Wand gehämmert, der Traum eines jeden Bikers. Die Götter der Straßenbauer hatten in jedem Fall extrem gute Laune, als dieses Straßen- und Wegenetz gebaut wurde.

Die Route de Combe Laval ist eine der interessantesten Straßen der Alpen. Die besonders kühn angelegte Straße wurde in die fast senkrecht abfallenden Felswände gehauen und über die Straßenbrüstung blickt man rund 600 m tief bis zum Talgrund hinab. Die eigentliche Schluchtstrecke ist 3,1 km lang und liegt zwischen dem Col de Gaudissart im Norden und dem Col de la Machine im Süden. Von einem Aussichtspunkt an der gegenüberliegenden D 2, den man vom Col de la Machine in knapp 3 km erreicht, hat man einen schönen Blick zur Route im Fels. Dieser Col de la Machine ist straßenbautechnisch schon etwas ganz Herausragendes. Und auch der Name ist ja mehr als ungewöhnlich. Ich frage mich, wie kommt dieser Berg zu diesem Namen…? Im 12. Jahrhundert beuteten Mönche den Wald von Bouvante aus. Da es keine Straßen gab, benutzten sie eine „Maschine“, um das Holz nach Royans zu bringen. Diese von Männern bediente Maschine wurde an der Stelle des Passes am Rand der Klippe installiert. Die Maschine wurde bis zum Bohren der Straße von Chartreux im Jahr 1600 eingesetzt.

Das Vercors ist flächenmäßig nicht gerade groß. Aber durch die Tatsache, dass es hier mehrere sehr enge und wilde Straßenverbindungen gibt, die gewaltige Höhenunterschiede meistern, ist das Vercors schon lange kein Geheimtipp mehr unter Motorradfahrern. Er hat eine Ausdehnung von etwa 30 mal 40 Kilometer und mehrere Zweitausender (Gipfelhöhen bis zu 2350 m). Da er an allen Seiten schroff ansteigt, konnte er erst im 20. Jahrhundert, teilweise mit in den Fels gesprengten Galerien, für den Straßenverkehr zugänglich gemacht werden. Aufgrund der eingeschränkten Nutzbarkeit befindet sich im Vercors das mit 170 Quadratkilometern größte Naturschutzgebiet Frankreichs.

Und dann gab es da noch République du Vercors während des Zweiten Weltkrieges. Während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg war das Vercors ein wichtiges Zentrum der Résistance, als Rückzugs-, Ausbildungs-, Lazarett- (Grotte de la Luire) und Versorgungsgebiet einer aktiven Gruppe von Soldaten, die von dieser Region aus Partisanenüberfälle vor allem im Rhônetal und in den Alpen organisierten. Am 1. Februar 1944 wurden unter anderem die Vercors-Kämpfer zu den Forces françaises de l’intérieur vereinigt. Die Widerstandskämpfer riefen nach dem 6. Juni 1944 die République du Vercors aus. Über 4000 Kämpfer sammelten sich; der Partisanenkampf sollte zu einem offenen, bewaffneten Aufstand werden. Leider waren diese Bemühungen wenig erfolgreich, hatten aber eine starke moralische Strahlkraft für ganz Frankreich.

Nach zwei Tagen im Vercors, die ich in der wunderschönen Ortschaft Villard-de-Lens als Basis verbracht habe, dürstet es mich nach wärmeren Gefilden.

Nur einen Katzensprung entfernt vom Vercors befindet sich die Provence. Der Mont Ventoux mit seinen knapp 2000 Höhenmetern gilt als der Gigant der Provence. Das Dorf Sault liegt auf einem Felsvorsprung in einer Ebene, die aus Weizen-, Dinkel- und Lavendelfeldern besteht, die am Ende einer Biegung enthüllt werden. Hier ist es wirklich deutlich wärmer. Das Thermometer zeigt verlockende 20 Grad – und die Straßencafes sind alle geöffnet. Der Gigant trägt seinen Namen völlig zu recht. Von weit her sieht man den kalksteinfarbigen Berg. Die Kelten verehrten ihn wahrscheinlich als heiligen Berg. Über die Region hinaus populär wurde der Mont Ventoux nach der Besteigung und Beschreibung durch Francesco Petrarca im Jahr 1336. Heute ist er durch eine Bergstraße erschlossen, die große Bedeutung für den Radsport hat. Der Gigant der Provence ist ein beliebtes Ziel von Auto- und Motorradtouristen, die von Malaucène, Sault oder Bédoin aus den Gipfel erreichen.

Der Mont Ventoux ist nicht nur für den Radrennsport ein legendärer Gipfel. In früheren Jahrzehnten haben hier an diesem heiligen Berg auch verschiedene Motorsport-Rennen stattgefunden. So diente die D 974 an der Südseite des Berges über viele Jahre als Rennstrecke. Am 12. September 1900 fuhren drei Wagen der Marke De Dion-Bouton in zweieinhalb Stunden zum Gipfel. Das erste organisierte Rennen (Concours de côte du mont Ventoux) fand 1902 statt. Der Sieger fuhr einen Panhard & Levassor und erreichte eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 47,5 km/h. Wesentlich schneller waren 1957 zwei Porsche und ein Maserati mit etwa 100 km/h. Der Geschwindigkeitsrekord wurde 1976 mit 150 km/h erreicht. Seit 1977 gibt es keine Autorennen mehr auf den Mont Ventoux. Daran halte ich mich und fahre ganz entspannt früh morgens auf den Gipfel der Provence. Im Sommer drängen sich hier bestimmt tausende von Touristen, Autofahrern und Radrennfahrern. Heute habe ich den Gipfel fast für mich alleine. Das ist verständlich – es ist knapp nach Ostern und die Gipfelstraße ist auch erst seit ein paar Tagen geöffnet. Und ganz oben – da ist es dann auch wieder erstaunlich kalt. Null Grad! Also – schnell wieder hinunter in die Ebene und in Bedoin eines der verlockenden Straßencafes aufsuchen.

Den Abschluss meiner kleiner österlichen Mopedtour bildet der der Gorges de la Nesque. Diese Schlucht ist der perfekte Tummelplatz für Motorrad-Begeisterte und Liebhaber der schönen, geschützten Natur. Man hält sich auf der Touristikstraße zwischen Monieux und Ville-sur-Auzon für einen schwindelerregenden Ausblick, aber auch für spektakuläre Landschaften über dem Canyon bereit. Bei einem Halt am Belvédère du Castellaras genießt man den Blick auf den Rocher du Cire.

Resumee

In fünf Tagen waren es: Knapp 2500 Kilometer. 155589956 Kurven. 13 Cafe au lait. 17 Flüche, dass die Kurve so schnell kommt, dass man wirklich heftig bremsen muss. 9 Croissant. 5 verwunderte Bauern die mich beim Offraod-Fahren beobachteten. 4 Croque Monsieur. Fast 500.000 Sekunden Glück!



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